Dienstag, 1. Oktober 2013

Erinnerung an sechs Bewohner im Viertel



Im Nikolaiviertel wurden erneut "Stolpersteine" verlegt.
Der große, breitkrempige Hut, der das Gesicht verdeckt und den Träger vor neugierigen Fragen weitgehend abschirmt, ist ein Markenzeichen des Bildhauers. So, wie die vor ihm liegenden gold-schimmernden, quadratischen Plaketten, die er in seinem Atelier anfertigt. Als Bewohner des Nikolaiviertels werde ich zufällig Zeuge, wie der Aktionskünstlers Gunter Demnig seine bekannten „Stolpersteine“ verlegt. Routiniert, jeder Handgriff geübt, mit Hilfe professioneller Werkzeuge, stemmt der Künstler eine Lücke ins kleinteilige Pflaster des Gehweges. Seine Methode zeigt, hier ist Eile geboten. Gunter Demnig hetzt von einem Stadtteil zum nächsten. Immer neue Aufträge für immer mehr „Stolpersteine“ erlauben kein Verweilen am Ort. Es gibt noch viel zu tun. Dieses schreckliche Kapitel deutscher Vergangenheit und die Erinnerung an die Opfer wird den Mahner Demnig noch lange auf Trapp halten. Seit Juli 2000 haben Gunter Demnig und von ihm autorisierte Personen berlinweit über 5000 Stolpersteine verlegt.



Das Stadtmuseum Berlin hatte sich in Zusammenarbeit mit Berliner
Schülern auf die Spurensuche von Juden begeben, die im heutigen Nikolaiviertel lebten. An die Menschen und ihr tragisches Schicksal werden nun weitere sechs „Stolpersteine“ vor ihren ehemaligen Wohnhäusern erinnern.



Diese am Mittwoch (25. September 2013) eingeweihten „Stolpersteine“ sind nicht die einzigen im Nikolaiviertel. Vor neun Jahren, im Oktober 2004, wurden die ersten Gedenksteine an der Ecke Rathausstraße/Spandauer Straße platziert. Sie erinnern an das Kaufhaus Nathan Israel und den Retter jüdischer Kinder, Wilfried Israel.

Für die Schülerinnen und Schüler ist das Projekt aber erst abgeschlossen, wenn sie auch noch Putzpaten oder Putzpatinnen für die verlegten Gedenksteine finden. Der goldene Schimmer, vor allem aber die Lesbarkeit der Namen, sind dem Bildhauer Demnig und den Initiatoren wichtige Anliegen.

Die Zitate (unten) stammen aus den Biographien, die die Schüler in der zweiten Schuljahreshälfte zusammengetragen haben. Das Gymnasium Tiergarten und die beiden Paten, Verein der Freunde und Förderer des Stadtmuseums Berlin e.V. und die Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM) haben dieses Projekt initiiert und gefördert, denn ein „Stolperstein“ kostet inzwischen 120 Euro. Die Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin fungiert als Kontaktstelle zwischen dem Künstler und seinem Team, den bezirklichen Initiativen, den Stolpersteinpaten und den Angehörigen der Opfer und darüber hinaus als zentrale Anlaufstelle für Stolpersteinanfragen und -anträge in Berlin.

Hier die ausführlichen Berichte der Schüler über die Menschen, die wir nicht vergessen wollen.


Burgstraße(heute Spreeufer)3

Margarete Croner, geb. Heymann (Jg. 1881)

Wilhelm Croner (Jg. 1869)

Deportiert am 13.1.1942

Todesort Riga



Wilhelm Croner wurde am 26.04.1869 in Berlin geboren. Er war der Sohn des jüdischen Kaufmanns Simon Croner und seiner Ehefrau. In Berlin besuchte Wilhelm Croner das Wilhelmstädtische Realgymnasium bis zum Einjährigen Zeugnis. Mit dem sogenannten „Einjährigen“ konnte man in die mittlere Beamtenlaufbahn, auf Handelshochschulen, Kunsthochschulen oder Landwirtschaftliche Lehranstalten eintreten und musste anstatt drei Jahren Wehrdienst nur ein Jahr ableisten. Nach seinem erfolgreichen Schulabschluss ging Wilhelm Croner bei der Briefmarkenfirma Philipp Cosack in die Lehre. Um ca. 1900 eröffnet er sein eigenes Einzelhandelsgeschäft in der Poststraße 31. Er spezialisierte sich auf Zigarren, verkaufte diese en gros und en detail. In diesem Geschäft arbeiteten mindestens 4 Angestellte für ihn. Im Jahre 1907 heiratete Wilhelm Croner die zwölf Jahre jüngere Margarete Heymann (Jahrgang 1881), aus deren Leben uns leider nichts bekannt ist. Zwei Jahre später kommt ihre Tochter Gertrude zur Welt. Gemeinsam bewohnte die Familie eine fünf Zimmer Wohnung in gut bürgerlichem Stil in der Burgstraße 3, das heutige Spreeufer. Ihrer Tochter Gertrude ermöglichten die Eheleute Croner nur die beste Schulausbildung, sie besuchte das Staedtische Luisen-Lyzeum und machte später eine Ausbildung am Sozialarbeiter-Seminar. Schon seit der frühen Kindheit der Tochter ging die Familie Croner zusammen auf Reisen. Das gutgehende Zigarrengeschäft verlegte Wilhelm Croner vor 1933 in die Königstraße, in unmittelbarer Nähe zum Kaufhaus N. Israel. Im Jahre 1933/34 fingen die Schikanierungen und Bedrohungen durch die Gestapo an. Im Jahre 1935 wurde der Familie Croner durch Verleumdung eines Angestellten das Geschäft geschlossen und alles von der Gestapo beschlagnahmt. Diese konkreten Bedrohungen nahmen Herrn Croner stark mit, so dass er einen Riss in seiner Lunge erlitt. Bis zum Jahre 1942 wohnten Margarete und Wilhelm Croner in der Burgstraße 3. Ihre Tochter emigrierte vor 1942 nach Israel. Am 31. Januar 1942 wurden Margarete und Wilhelm Croner in den Osten deportiert und ermordet. Ihr Todesort ist Riga. 


 



Poststraße 12

Meta Lesser

Jg. 1885

Deportiert 3.3.1943

Ermordet in Auschwitz



Meta Lesser (geb. Goldberg) wurde am 27.8.1879 in Westpreußen geboren. Nach dem Tod ihres Mannes Sigfried Lesser im Jahre 1935 – er wurde auf dem jüdischen Friedhof Weissensee begraben - lebte sie zusammen mit ihrem Sohn Jacob David, geboren 1920, in der Poststraße 12. Meta Lesser und ihr verstorbener Mann Siegfried Lesser waren Mitglieder der Jüdischen Gemeinde von Berlin. Die Familie Lesser bewohnte in diesem Haus – Poststraße 12 – eine 5 Zimmer Wohnung. Nach dem Tod ihres Mannes betrieb sie einen Großhandel mit Wollwaren namens Neumark & Baer. Der Sitz ihrer Firma war ebenfalls in der Poststraße 12. Der Sohn David besuchte ab 1933 die jüdische Mittelschule und wurde 1936 gezwungen eine Lehre als Schlosser zu machen. Im selben Jahr verlor Meta Lesser infolge der nationalsozialistischen Repressionen und der antisemitischen Hetze ihr Geschäft und einen beträchtlichen Teil ihrer Kundschaft, somit die Existenzgrundlage für sich und ihren Sohn. In derselben Zeit wurde ihre gut bürgerliche Einrichtung konfisziert. Der Sohn David wanderte im August 1938, gerade 18-jährig, alleine nach England aus. Meta Lesser wurde am 4.3.1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Nur zwei Monate vorher schrieb sie ihrem Sohn über das Rote Kreuz einen Brief nach England: „Mein lieber Junge! Bin gesund, erhoffe gleiches von dir….“ unterschrieben mit „deine Mutti“. Wir wissen aus den Wiedergutmachungsakten, dass der Sohn von Meta Lesser eine eigene Familie in London gründete und in den 1950er über mehrere Jahre hinweg versuchte, eine Wiedergutmachung für das Unrecht, dass ihm und seiner Mutter widerfahren ist,  zu erlangen.

  


Poststraße 12

        HEIMANN SCHENDEL         
JG. 1885
DEPORTIERT 3.3.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ


MARIE JOHANNA SCHENDEL
GEB. SANDER
JG. 1898
DEPORTIERT 3.3.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ



Biographie für Marie Johanna und Heimann Schendel

Marie Johanna Sander wurde am 09. Oktober 1898 in Augsburg  geboren und war das Kind von Emma und Alfred Sander, einer Fabrikantenfamilie aus Augsburg. Am 6. Juni 1928 heiratete sie den 13 Jahre älteren Kaufmann Schendel Heimann, genannt Hugo, geboren am 3. September 1885 aus Schivelbein in Pommern. Marie Johanna machte eine Ausbildung als Bibliothekarin und war in Augsburg tätig. Wenig später zogen Marie Johanna und Heimann Schendel zusammen nach Ansbach in Bayern um das dortige Kaufhaus „L.D. Steiner“ zu führen, dessen Inhaber Heimann Schendel war. Das Kaufhaus L.D. Steiner „war eines der beiden führenden Kaufhäuser“ in Ansbach und die Familie Schendel beschäftigte 20 Angestellte. Am 20. April 1931 kommt Eva Jenny, das einzige Kind der beiden Eheleute, zur Welt. Unter dem Druck der politischen Verfolgung und der antisemitischen Stimmung in Ansbach, waren die Schendels gezwungen ihr Kaufhaus weit unter Wert zu verkaufen. Die Familie entschloss nach Berlin zu ziehen, da Sie sich dort, in der Großstadt, erhofften, unbekannt weiterleben zu können und somit vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten geschützt zu sein. Seit dem Jahre 1935 lebten Sie in Berlin Mitte, in der Poststraße 12. Marie Johanna und Heimann Schendel betrieben von dort aus einen Großhandel mit Stoffen und Textilien. Ihre Tochter Eva besuchte ab 1938 die Mädchen-Volksschule der Jüdischen Gemeinde. Am 3. März 1939 konnten die Schendels ihre Tochter Eva vor der nationalsozialistischen Verfolgung retten. Über einen Kindertransport zusammen mit anderen jüdischen Kindern kam Eva nach England und wurde dort vom Jüdischen Komitee der Familie Goldberg in London als Pflegekind übergeben. Heimann und Marie Johanna Schendel sahen ihre Tochter nie wieder. Am 3. März 1943 wurden beide nach Auschwitz deportiert und ermordet. Heute möchten wir ihrer und ihrem Schicksal gedenken. Von der Tochter Eva wissen wir, dass sie ab 1948 das Jüdische Lehrerseminar in Gateshead besuchte und Lehrerin an Jüdischen Volksschulen und später in Höheren Jüdischen Schulen wurde. 1951 heiratete sie den Rabbiner Raphael Margulies.





Poststraße 20
 RECHA ZEIDLER

GEB. SIMON

JG. 1886

DEPORTIERT 4.8.1943

ERMORDET IN

THERESIENSTADT



Recha Simon wurde am 12.12.1886 in Usch, Scheidemühl in Deutschland geboren. Sie war deutsche Jüdin, die mit ihrer großen Familie nach Berlin zog und dort glücklich lebte. Sie hatte insgesamt zwei Geschwister, Marta Gutknecht (geborene Simon) und Elsbeth Sandmann (geborene Simon) zu denen noch fünf Halbbrüder, Max Simon, Michel Simon, Harald Simon, Gerhard Simon und Georg Simon und zwei Halbschwestern, Frieda Laser (geboren Simon) und Betty Simon kamen. Racha Zeidler heiratete zwei Mal. Aus ihrer ersten Ehe mit Hermann Dobriner gingen keine Kinder hervor. Nach dem Tod ihres Ehemanns Hermann Dobriner am 29.12.1931, heiratete sie ein zweites Mal und zwar Herrn Zeidler, dessen Vorname nicht bekannt ist. Mit ihm bekam sie am 03.07.1923 einen Sohn, Horst Dobriner.

Recha Zeidler wohnte Zeit ihres Lebens in der Poststraße 20 in Berlin in einer drei Zimmer Wohnung. Diese Wohnung konnte sie sich durch ihren kleinen Heimbetrieb, eine Wäschefabrikation von Zuhause, finanzieren. Daraus lässt sich schließen, dass sie ein erfolgreiches Unternehmen geführt hat und somit unter guten Verhältnissen leben konnte.

Doch Recha Zeidler wurde Opfer der grausamen Gewalttaten der Nationalsozialisten und so wurde sie im August 1943 als verschollen gemeldet. Die Wirklichkeit jedoch, sprach eine andere Sprache, denn am 04.08.1943 wurde sie mit dem 95. Alterstransport nach Theresienstadt deportiert, um von dort, wenig später, nach Auschwitz deportiert zu werden. Dieses Schicksal ereilte viele jüdische Deutsche und so wurde Racha Zeidler in den Konzentrationslagern unmenschlich behandelt, sodass sie schwere Schäden am Körper und an ihrer Gesundheit erlitt, bis ihr Leiden am 08.05.1945 ein unvorstellbares Ausmaß annahm und sie an diesem Tage, gemeinsam mit zwei ihrer Halbbrürder, Max Simon und Michel Simon, sowie mit ihrer Halbschwester, Betty Simon und ihrem Sohn, Horst Dobriner ermordet wurde.





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